Luftangriff bei Kundus 2009 (Bundeswehr-Verschlusssache)

Beim Luftangriff bei Kundus am 4. September 2009 gegen 2 Uhr Ortszeit wurden etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt Kundus im Norden Afghanistans zwei von Taliban entführte Tanklastwagen und die sich in nächster Nähe befindlichen Menschen bombardiert.

Der vermutlich völkerrechtswidrige Angriff ging international als die von Medien so bezeichnete „Kunduzaffäre“ in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein.

Doch was geschah genau im Detail? Aus den im Jahr 2012 geleakten Afghanistan-Papieren haben wir mühevoll den entsprechenden Bericht (37/09) aus über 5000 Seiten herausgesucht und veröffentlichen diesen nun hier.

Information: Die Afghanistan-Papiere sind Einsatzberichte der Bundeswehr an den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, die mittels eines anonymen Informanten der WAZ-Mediengruppe zugespielt wurden. Die mehr als 5000 eingescannten Seiten wurden von der Zeitungsgruppe online gestellt. Sie behandeln Bundeswehr-Einsätze in der ganzen Welt und stammen aus der Zeit von 2005 bis 2012. Die Einsatzberichte sind die Grundlage für die wöchentliche Unterrichtung der Öffentlichkeit durch die Bundeswehr und unterliegen der Schutzstufe Verschlusssache.

(Bundesgerichtshof-Urteil vom 30. April 2020 – I ZR 139/15 – Afghanistan Papiere II zur urheberrechtlichen Zulässigkeit der Veröffentlichung militärischer Lageberichte: https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/2020045.html)

Einsatzbericht der Bundeswehr an den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages im Jahr 2009 über den Luftangriff bei Kunduz (Kunduz-Affäre) vom 4. September 2009:

(Datenquelle: Encyclopædia)

Deckblatt:

1

2009-37-07:

2009-37-08:

2009-37-09:

2009-37-10:

Wegen der schlechten Qualität der Kopien hier noch einmal dargestellt:

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(2) Regional Command (RC) Capital / Teile Deutsches Einsatzkontingent (EinsKtgt) 

Keine berichtenswerten Ereignisse 

(3) Regional Command (RC) North / Deutsches Einsatzkontingent (EinsKtgt)

Am 03.09.09 griffen eine unbekannte Zahl OMF tm Distrikt Dash-e Archi in der Provinz Kunduz deutsche Kräfte der Schutzkompanie des Regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams / PRT) Feyzabad, die zurzeit im Rahmen einer gemeinsamen Operation mit afghanischen Sicherheitskräften zur Verstärkung des PRT KUNDUZ eingesetzt sind, mit Handfeuerwaffen und RPG an. Dabei wurden drei deutsche Soldaten verwundet, von denen einer am 04.09.09 zur weiteren medizinischen Behandlung nach Deutschland geflogen wurde. Die in der Nähe befindliche Kompanie der deutschen Quick Reaction Force (QRF) wurde zur Verstärkung eingesetzt. Im Verlauf der mehrere Stunden anhaltenden Kampfhandlungen wurde ein Fahrzeug der Schutzkompanie des PRT Feyzabad so schwer beschädigt, dass es aufgegeben werden musste. Darüber hinaus wurden sechs weitere Fahrzeuge beschädigt, konnten aber mitgeführt werden. Nach bisherigen Informationen wurden elf OMF getötet. 

Am 03.09.09 um 21.12 Uhr afghanischer Ortszeit wurde das PRT Kunduz aus der gemeinsamen Operationszentrale der afghanischen Sicherheitskräfte in Kunduz über die Entführung von zwei Treibstoff-Lkw durch OMF südlich von Kunduz informiert. Der Fahrer einer der beiden Treibstoff-Lkw sei noch an Ort und Stelle ermordet worden. Absicht der OMF – so die Meldung – sei es, diese Treibstoff-Lkw über eine Furt im Kunduz-Fluss in den westlich von Kunduz gelegenen Distrikt Chahar zu verbringen.

Um 23.14 Uhr afghanischer Ortszeit wurden die beiden stehen gebliebenen Treibstoff-Lkw zusammen mit einer größeren Anzahl Personen durch ein amerikanisches Luftfahrzeug vom Typ Bl-B auf einer Sandbank in einer Furt des Flusses Kunduz rund sechs Kilometer südwestlich des PRT Kunduz aufgeklärt.

Die Besatzung des Luftfahrzeugs meldete, dass von etlichen Personen Waffen getragen würden, darunter Handwaffen und RPG. Das Luftfahrzeug befand sich

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rund 15 Minuten über dem betreffenden Raum und brach den Einsatz anschließend wegen erforderlicher Luftbetankung ab. Rund 20 Minuten später trafen zwei andere amerikanische Luftfahrzeuge vom Typ F-15 über dem Raum ein und übernahmen die Beobachtung.

Die Lage an der Furt wurde mittels eines durch diese Luftfahrzeuge bereitgestellten Live-Videos vom PRT Kunduz weiter beobachtet. Eine vor Ort als sehr zuverlässige Quelle des PRT Kunduz bestätigte in der Folge mehrfach ausdrücklich, dass es sich bei den Personen an den Treibstoff-Lkw ausschließlich um OMF handele. Darüber hinaus wurden die Namen von vier Taliban-Führern angegeben, die sich vor Ort befänden.

Vor dem Luftangriff waren keine weiteren bodengebundenen oder luftgestützten Aufklärungskräfte an oder in der Nähe der Furt durch den Fluss Kunduz.

Der Kommandeur des PRT Kunduz befahl den Luftangriff am 04.09.09 um 01.39 Uhr afghanischer Ortszeit. Bei seiner Entscheidung ging er aufgrund der vorliegenden Aufklärungsergebnisse (Live-Video, afghanische Quelle) ausdrücklich davon aus, dass eine Gefährdung von unbeteiligten Zivilpersonen ausgeschlossen war. 

In der jüngsten Vergangenheit gab es sehr ernst zu nehmende Warnhinweise, dass OMF im Raum Kunduz einen Anschlag mit einem dazu umfunktionierten Lkw gegen das PRT Kunduz oder Liegenschaften der afghanischen Sicherheitsbehörden planen. Die beiden entführten Treibstoff-Lkw wären für einen Anschlag dieser Art geeignet gewesen.

Um 01.49 Uhr afghanischer Ortszeit wurde durch eine amerikanische F-15 auf jeden der beiden Treibstoff-Lkw auf der Sandbank in der Mitte des Kunduz-Flusses je eine gelenkte Bombe vom Typ GBU-38 (227 Kilogramm) abgeworfen.

Der Kommandeur des PRT Kunduz war der Empfehlung der Luftfahrzeugbesatzungen zum Einsatz einer deutlich schweren Bombe (907 kg) nicht gefolgt, um Schäden beiderseits des Flusses auszuschließen.

Nach anschließender Überprüfung aus der Luft wurde zunächst gemeldet, dass 56 Personen getötet wurden und 14 auf der Flucht nach Nordosten sind. Beide Treibstoff-Lkw wurden getroffen und zerstört.

Nach dem zunächst am Vormittag des 04.09.09 ein unbemanntes Luftfahrzeug vom Typ KZO das Gebiet des Bombenabwurfes aufklärte, trafen Kräfte am

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Boden gegen Mittag vor Ort ein. Unmittelbar nach Eintreffen wurden sie von OMF beschossen.

Die Anzahl der Getöteten konnte am nächsten Morgen nicht mehr verifiziert werden, da die Leichen bereits geborgen worden waren. Im Laufe des 04.09.09 wurden zwölf männliche Verletzte, darunter ein zehnjähriger Junge, zumeist mit Brandverletzungen in das Krankenhaus in der Stadt Kunduz eingeliefert. Einer der Verletzten wurde durch die afghanische Polizei unmittelbar nach Einlieferung unter Bewachung gestellt.

Noch am späten Nachmittag des 04.09.09 hat ein ISAF-Team mit Voruntersuchungen in Kunduz begonnen. General McChrystal, der ISAF-Kommandeur (COM ISAF), hat sich am 05.09.09 selbst ein Bild der Lage vor Ort verschafft. Das deutsche Einsatzkontingent ISAF wie auch afghanische Sicherheitsbehördcn haben die Voruntersuchungen unterstützt.

Im Zusammenhang mit dem Besuch des COM ISAF kam es am Nachmittag des 05.09.09 (17.16 Uhr afghanischer Ortszeit) am Ort des Luftangriffs zu einem weiteren Vorfall, bei dem OMF den Raum um die Furt über den Kunduz-Fluss mit Mörser beschossen. Die Mörsereinschläge erfolgten nahe einer Beobachtungsposition, die COM ISAF 10 Minuten zuvor verlassen hatte. Insgesamt wurden 12 Mörserschüsse abgefeuert.

Das ISAF-Team, das die Voruntersuchungen in Kunduz durchgeführt hat, hat mittlerweile einen geheim eingestuften Bericht an COM ISAF vorgelegt. In dem Bericht werden erste vorläufige Erkenntnisse zum Geschehensablauf aufgrund von Befragungen der beteiligten Dienststellen dargestellt. Das Team empfiehlt die Einleitung einer formalen Untersuchung.

COM ISAF hat inzwischen der Empfehlung folgend eine Kommission unter Leitung des kanadischen Generalmajors C.S. Sullivan zur Untersuchung des Vorfalls eingesetzt. Dieser Kommission werden unter anderem auch ein deutscher Offizier und ein Rechtsberater ISAF angehören.

Die afghanische Regierung, die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) haben eigene Untersuchungen vor Ort angekündigt. 

Die Staatsanwaltschaft Potsdam wurde über den Vorfall informiert und hat den Vorgang zuständigkeitshalber an die Staatsanwaltschaft Leipzig abgegeben. 

Wegen Kapazitätsmangels wurde mittlerweile die Integrierte Ermittlungseinheit 

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Sachsen (INES) beim Generalstaatsanwalt in Dresden mit dem Vorgang bzw. der Prüfung, ob ein Anfangsverdacht für ein Ermittlungsverfahren besteht, betraut. 

Afghanische Offizielle der Provinz Kunduz (der Gouverneur, der Vorsitzende des Provinzrates, der Geheimdienstchef, der Chef der Polizei und der Kommandeur der zweiten ANA-Brigade) wandten sich am 06.09.09 mit einem Schreiben an den amtierenden Staatspräsidenten Hamid Karzai und betonten darin, dass alle bei dem Luftangriff am 04.09.09 Getöteten zu den Taliban und deren Verbündeten gehören. 

Am 05.09.09 verübten OMF im Raum Kunduz rund sechs Kilometer nordöstlich des Feldlagers des PRT Kunduz einen SVBIED-Anschlag auf eine deutsche Marschkolonne. Durch die Wucht der Detonation kippte ein geschütztes AlIzwecktransportfahrzeug vom Typ DINGO zur Seite, wodurch fünf deutsche Soldaten leicht verwundet und ein afghanischer Sprachmittler leicht verletzt wurden. Verstärkungskräfte aus dem PRT Kunduz unterstützten die Soldaten vor Ort bei der Sicherung und dem anschließenden Transport der Verwundeten in das Feldlager des PRT Kunduz. Am 06.09.09 wurde eine verwundete Soldatin zur weiteren medizinischen Behandlung nach Deutschland geflogen. 

(4) Kurzfristige Unterstützungsleistungen ISAF 

In der vergangenen Woche gab es zwei Unterstützungsflüge außerhalb des deutschen Verantwortungsbereiches. Die Anzahl der Unterstützungsflüge erhöht sich damit auf insgesamt 721. 

Alle weiteren kurzfristigen Unterstützungsleistungen außerhalb des deutschen Verantwortungsbereiches sind in der Anlage 1 aufgeführt. 

c. Beteiligung der Bundeswehr an der United Nations Assistance Mission ln Afghanistan (UNAMA) 

Keine berichtenswerten Ereignisse. 

(Ende des Berichts)

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Siehe dazu auch:

https://wikileaks.org/wiki/Close_Air_Support_Kunduz:_Untersuchungsbericht,_Meldungen,_Auswertungsgespraeche,_September_2009